FROHE WEIHNACHTEN




Normalerweise sitze ich kurz vor Weihnachten an der Tastatur und beginne ein neues Dokument nach dem anderen, die Anfänge immer wieder verwerfend, bis eines jener durcheinander wirbelnden Gefühle sich als dominant erweist und vor jenem viel gerühmten inneren Auge gestochen scharfe Bilder entwirft, die nur noch in möglichst klangvolle und eindeutige Sprache übersetzt werden wollen. Irgendwann gleiten die Finger dann voller Vertrauen über jene alphabetisierten Tasten und erschaffen etwas so Schönes und Einfaches, wie eine Weihnachtsrundmail.
Dieses Jahr jedoch wollen die Bilder sich nicht einstellen. Gesichter, Buchstaben, Farben oder Gegenstände erscheinen, Gesprächsfetzen, Blicke, physiologische Zustände drängen sich mit hoher Frequenz ins Bewusstsein, um gleich wieder in der Weite des Denkens zu versinken und dort leiser werdend zu verblassen. Das einzig klare Bild umfasst meine Hände vor mir, die diesen Text tippen – doch dazu bedarf es nicht der Phantasie, sondern lediglich eines funktionierenden Gehirns, das sensorische und visuelle Reize zu einem stimmigen Ganzen fügen kann. 

Ich gehe also noch einmal in mich, gehe auf die Suche nach der Essenz des vergangenen Jahres. Dieses Mal öffnet sich ein dunkler, stiller Raum. Ich blicke an mir herab und sehe meine Füße, meine Hände. Ich bin also tatsächlich hier. Vor mir, in der Luft schwebend, erscheint ein aufgeschlagener Kalender. Er ist von Hand gebunden und eingeschlagen in weinroten Samt. Ich blättere in ihm. Die Seiten sind überfüllt, er platzt aus allen Nähten. Getrocknete Blütenblätter und Zitronenschalen rieseln aus den Seiten, aber auch Reste von Holzkohle, Radiergummikrümel und Tränensalz. Ein Stapel Fotos fällt zu Boden. Ich bücke mich. Es sind Abbilder jener Menschen, die mir fachlich, künstlerisch oder persönlich besonders nahe gekommen sein müssen im letzten Jahr. Auf manchen älteren Fotos haben die Gesichter schon keine Nasen mehr, die Augen sind verschwommen, doch fühle ich jede/n Einzelne/n ganz deutlich: Wir begegneten einander hier und dort zum Tausch von Gedanken und Zeit, Licht, Nahrung und in manchem Falle auch ein wenig Haut. Eine Europakarte mit roten Punkten und gestrichelten Linien. Ein Zettel mit Arbeitstitel und Gliederung liegt zusammengefaltet dazwischen. Zugtickets, Notenblätter, niemals abgeschickte Briefe – und am wichtigsten: ein winziges Kästchen voller außergewöhnlicher literarischer, musikalischer, menschlicher Berührungen. Ich streiche über seinen Deckel und mir fällt auf, dass an ihm, wie auch an all den Seiten des Kalenders, an Zetteln und Fotos ein feiner rötlicher Staub haftet. Eingerissene Mauern, muss ich unwillkürlich denken, Backsteine von Wind und Wasser zermahlen, ohne dass ich es überhaupt bemerkt habe. Der Kalender verschwindet. Die Landschaft um mich weitet sich, kahle, grünende, blühende, fruchtende, saftige, färbende, blätternde und wieder kahle Bäume umrahmen einen kleinen See. Am Ende stehe ich in einer weißen Winterlandschaft. Es dunkelt. Ein Baum oder nur sein Schatten, aus der Ferne kann ich es nicht sehen, wirft sich eine Lichterkette wie eine Stola über die Schultern, behängt seine Ohren mit roten Weihnachtskugeln – ja, es wird albern, aber was soll ich gegen diese rauschenden Bilder bloß tun – und er beginnt aus vollem Halse schräge Weihnachtslieder zu singen. Aber schön schräg. Er muss sich weiß Gott nicht dafür schämen, denn sie kommen aus tiefster Weihnachtsbaumseele und ich verspreche: Er meint, was er singt – und ich kann mich ihm mit meinen eigenen Worten nur anschließen: 

Frohe Weihnachten, einen besinnlichen Blick auf den alten und ganz viel Platz im neuen inneren Kalender für Menschen, Bücher, Musik und was Euch und Ihnen sonst noch nah am Herzen liegt. 

Angelika Brünecke, M. Sc.
Germanistin, Humangeographin und Rehabilitationspädagogin




 

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