Tanztheater und Erinnerungskultur in Frankreich

Laut Gilzmer (2007, 25) bestimmt eine umfassende und leidenschaftliche Debatte um die dunklen Seiten der französischen Vergangenheit die Diskussion. Insbesondere die Erinnerung an den Algerienkrieg wird durch Denkmäler in Paris und andernorts deutlich. Rüsen (2006, 413) definiert eine europäische Erinnerungskultur als ständige interkulturelle Verhandlung, die sich aus gemeinsamen Traditionen und einem Eingeständnis „katastrophischer“ Entwicklungen speist. Erinnerungskultur sei wichtiger Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung und Modethema der politisch-publizistischen Diskussion (Faulenbach 2006, 11). „Dass Gruppen, deren Existenz auf Dauer angelegt ist, dazu tendieren, ein eigenes Gedächtnis zu entwickeln und eine Erinnerungskultur herauszubilden, die ihrerseits den Vergemeinschaftungsprozess fördert, lässt sich vielfältig feststellen“ (Faulenbach 2006, 11). Dies manifestiert sich in verschiedenen Formen: Als Denkmäler, Gedenkstätten, Museen, öffentliche Rituale oder ein vorherrschendes Geschichtsbild. Eine Zäsur globaler Dimension war das Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 (Pfeil 2006, 299ff.). Die Bezugnahme auf die Vergangenheit erneuerte sich in den betroffenen Ländern. Für Frankreich spielten der Zweite Weltkrieg, die deutsche Besatzung, das Vichy-Regime, die Résistance und die Deportationen eine bedeutende Rolle bezüglich der geschichtspolitischen Bewältigung (ebd.). Diese fand in der Wiederaufbauphase nach diesen Ereignissen statt. Ein gegenwärtiges und zukünftiges Selbstverständnis sollte konstruiert werden. Sogenannte „Erinnerungsgemeinschaften“ seien das Resultat identitärer Prozesse. Sie produzieren Selbstbilder und Stereotype. Sie streben nach Dauer und blenden Wandlungen aus. Das Geschichtsverständnis ist veränderungslos. Die erinnerten Fakten richten sich in der Auswahl nach dem Bedarf. Differenzen nach außen werden betont und Diskrepanzen nach innen werden geebnet (ebd.). Entscheidend für das hiesige Thema ist das Vorhandensein bzw. die Identifikation verschiedener Varianten der Entwicklung von Erinnerungskulturen (Faulenbach 2006, 14):


A: bisherige Erinnerungskultur wird abgelöst durch neue Erinnerungskulturen,

B: bisherige Erinnerungskultur ist stark genug, um sich im Wesentlichen zu erhalten,

C: bisherige Erinnerungskultur wird teilweise aufgelöst, fragmentiert und modifiziert. 


Dabei besteht ein ständiger Kampf zwischen den und um die Erinnerungskulturen. Im günstigsten Falle ist das Ergebnis eine Manifestation einer pluralistische Erinnerungskultur, wie am Beispiel des Theaterstückes „à nos morts“ gezeigt werden soll.

Der Hafen von Marseille

„Ein Schiff nähert sich der Küste, das blaue Meer leicht gekräuselt, im Hintergrund die golden von der Sonne beleuchtete Skyline der Hafenstadt. Links lehnt an der Reling ein aristokratisch gekleideter junger Herr, ein osmanischer Pascha vielleicht oder ein reicher Inder, jedenfalls ein Orientale. Neben ihm lagern auf Teppichen vornehme Frauen mit und ohne Schleier, gleich dahinter sitzt, ins Studium der Bibel versunken, ein orthodoxer Pope. Weitere Passagiere stehen auf dem Deck, Kaufleute mit Fezen und Turbanen. Man sieht auch die muskulösen Männer der Besatzung unterschiedlicher Hautfarbe: Einer von ihnen, ein Schwarzer, schickt sich an, zum Einlaufen die weiße Fahne mit dem Halbmond zu hissen. Backbord ein entgegenkommendes Schiff, dessen Mannschaft den Ankömmling freundschaftlich begrüßt“ (Liehr 2013, 61). 

In diesem Fall lässt sich eine vorkoloniale Vision erkennen: Hier wird eine Beziehung auf Augenhöhe beschrieben; die respektvolle Begegnung von Gleichberechtigten. Dies inspiriert vom Geist des frühen Seehandels (Liehr 2013, 61). In der Realität gestaltete sich dieses Aufeinandertreffen anders: „Die höheren Rassen haben ein Recht gegenüber den niederen Rassen“ (Liehr 2013, 62). Die Vorstellung der Höher- bzw. Minderwertigkeit der Rassen kommt zum Tragen. Kolonien werden in erster Linie als Rohstoffressourcen und potenzielle Absatzmärkte betrachtet. 

Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des Hafens ist der Erste Weltkrieg. In dieser Zeit war der Hafen Anlaufpunkt und Drehkreuz für Millionen von Männern. Viele Kilometer der Kais und Docks wurden für die Ankunft und Weiterverschiffung von Truppen und Kriegsmaterial genutzt. Der Großraum Marseille diente als Heerlager, für Soldaten aller verbündeter Länder, was sowohl die französischen als auch die britischen Kolonien einschloss. 1914 erregten beispielsweise die ersten schwarzen Soldaten die Gemüter. Da die Unterbringungsstruktur zu wünschen ließ zu wünschen übrig, deshalb wurden einige Kompanien in der „Vieille Charité“ (zu deutsch „Altes Krankenhaus“) und anderen improvisierten Lagern untergebracht (Liehr 2003, 87ff.)

Während dessen riss der Zufluss nicht ab: 20 Schiffe waren ohne Unterlass zwischen Dakar und Marseille unterwegs: Ca 450.000 Kolonialsoldaten fanden ihren Weg aus Maghreb, Indochina, Französisch-West- und Französisch-Äquatorialafrika und anderen Ländern in die Stadt. Offiziell galten diese als „Freiwillige“,jedoch sah die Realität meist anders aus. Nach kurzem Aufenthalt in den Lagern wurden die Männer als „Kanonenfutter“ an die Front transportiert, was eine große Anzahl an Toten mit sich brachte. 

Zwischen 1914 und 1918 war Marseille auch wichtiges Zentrum für Behandlung und Pflege von Kriegsverletzten. Da die Krankenhäuser überlastet waren, wurden 17 Hilfslazarette eingerichtet. Des weiteren strömten in die Stadt unzählige Flüchtlinge. Unternehmen wurden frontfern verlegt, Arbeitskräfte aus den Kolonien ins „Mutterland“ gebracht, als Ersatz in Landwirtschaft und Industrie für die kämpfenden Soldaten.Insgesamt wurden zig Hunderttausende Kolonialarbeiter rekrutiert, transportiert und verteilt. Für viele war dabei Marseille die erste Station in Europa. Sie entdeckten also das „Mutterland“ (Liehr 2013, 87ff.). Es handelte sich um ca.: 550.000 Algerier, Tunesier, Marokkaner; 250.000 Asiaten aus Indochina; zigtausende Schwarzafrikaner. Marseille war deren Zugangstor zu einer fremden Welt mit den Leitwerten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Diese Entwicklungen veränderten das kolonialistische Selbstverständnis  (Liehr 2013, 87ff.).

Auch der Zweite Weltkrieg (Lieher 2013, 143ff.) zeigte ähnliche Entwicklungen. Auch wenn der patriotische Überschwang des Ersten Weltkrieges fehlte, so gestaltete sich Marseille wiederum als Ankunfts- und Abfahrtsort der Kolonialtruppen. Auch wurden wieder Arbeiter für die Landwirtschaft aus Marokko ins Land geholt. Genau wie 20.000 Mann aus Indochina für die Rüstungsindustrie. Doch der Krieg machte sich bald auch in Marseille bemerkbar: Angriffe der Deutschen Luftwaffe trafen Schiffe, Ölreservoirs, Raffinerien und ein Gasometer. Am folgenden Tag gab es wieder Angriffe, wobei ein Passagierschiff versenkt wurde. Es gab 40 Tote und 140 Verletzte. Einige Tage später fielen italienische Bomben auf die Innenstadt und forderten 140 Tote. Wiederum gab es eine große Fluchtbewegung: Ca. 100.000 Flüchtlinge kamen nach Süden. Hier handelte es sich um ein heterogenes Gemisch: Antifaschisten, Juden, Intellektuelle, Künstler aus Deutschland und Österreich, Tschechoslowakei oder Polen. Marseille war ein Sammelpunkt dieser Gruppen. 

Die österreichische Schriftstellerin Hertha Pauli schrieb: 

„Wenn man nicht genau hinsah, bot sich ringsum das altgewohnte bunte Bild. Nur waren es Horden entlassener Soldaten, die uns statt der üblichen Matrosen umgaben. Sie trugen bunte Trachten, waren aber keine exotischen Touristen, sondern gestrandete Militärs der Kolonialtruppen; Marokkaner oder Spahis mit Seidenschärpen, auch Senegalesen mit hohen Turbanen. Statt Touristen aus aller Welt liefen Flüchtlinge aus allen erorberten Gebieten herum, unter Tschechen und Polen auch Belgier, Pariser und Nordfranzosen, denen wir zu gleichen suchten“ (Pauli 1990 in Liehr 2013, 147).

Von Belang für die Geschichte des Hafens ist auch die deutsche Besatzung im Herbst 1942. Der Reichsführer der SS Heinrich Himmler wollte den „Saustall Frankreichs“ aufräumen (Liehr 2013, 189ff.). Er stellte sich eine „Verhaftung der großen Verbrechermassen von Marseille und deren Abfuhr in KL [Konzentrationslager]“ (ebd.) vor. Auch wollte er die Unter- und Hafenstadt Marseilles sprengen, der Tod der Anwohner sollte in Kauf genommen werden. Dies ist so nicht eingetreten. Immerhin wurde die Unterstadt evakuiert bevor eine zweiwöchige Sprengung stattfand, dies unter Protest der Anwohner, insbesondere des Rotlichmileus: 

„[Es gab] verbale Proteste sehr spezieller Art. […] Sie kamen von den Huren des Viertels, die damit auf ihre Weise die Ehre der Stadt retteten. [Sie stöckelten] auf hohen Absätzen, mit aufgedonnerten Frisuren, hautengen geschlitzten Kleidern in einem abenteuerlichen wilden Zug aus den Gassen der Sünde [heraus], [und beschimpften] die französischen Flics, die Handlanger der Nazis bei der Zerstörung der eigenen Stadt (Liehr 2013, 192). 

Das Tanztheaterstück „à nos morts“

In ihrem Dossier Pedagodique schreiben die Macher des Theaterstückes „à nos morts“ über Ziele und Natur des Stückes. Basierend auf einer Initiative von Künstlern, Historikern, Sozialarbeiter und kulturellen Akteuren von nah und fern und verschiedener Horizonte ist das Ziel der „compagnie Mémoires Vives“ eine Show zu erschaffen, die die Geschichte der Territorien und der Einwohner, die Geschichte der Immigration und das kollektive Gedächtnis behandelt. Die Show sei interdisziplinär und eine Kreuzung von kulturellen und künstlerischen Aspekten: eine „Hymne auf die Diversität (Compagnie Mémoires Vives 2006/2007, 1).

Des weiteren sollen Traditionen in Frage gestellt werden, indem eine gemeinsame Geschichte, die schmerzlich, brüderlich und kollektiv ist, gefördert wird: Eine Geschichte, die trotz dunkler Phasen, eine multikulturelle Gesellschaft begründen kann (ebd.). Ein Wunsch ist, durch Kenntnis der Geschichte der Immigration und mit der Anerkennung des Beitrages der Immigration eine multikulturelle Republik zu fördern. Es geht darum, die Geschichte Frankreichs zu Tage zu fördern und die eigene Geschichtlichkeit und die historischen Prozesse zu erkennen. 

So betrachten Hip Hop Künstler verschiedener Herkunft das schwierige Dasein eines Teiles der Jugend und eines Teiles der französischen Bevölkerung. Frankreich baue auf der Diversität auf, wovon Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Zeugnis ablegen. Die unmittelbare Nachbarschaft verschiedener Kulturen ergibt verschiedene Kämpfe und Hoffnungen. 

Bewegung als Erinnerung

Wie Ritter und Cramer (2013) schreiben, war Tanz lange keine Kunst, sondern gesellschaftliche Praxis zur Strukturierung in vielen Lebensbereichen. So wurden die Gemeinschaft gebildet, Geschlechterverhältnisse eingeübt und religiöse Feiern begleitet. So kann man Tanz einerseits als Grundbedürfnis des Menschen an sich betrachten, aber andererseits Tanz auch als indiviudellen künstlerischen Ausdruck. Mit der Auseinandersetzung der Entwicklung dieser Auffassungen beschäftigen sich Ritter und Cramer (2013: 69): „Bedenkt man, dass der Löwenanteil staatlicher Kulturförerung [in Deutschland, Anm. d. Autorin] in die Bewahrung von materiellen Kulturgütern, Denkmäler und Bauten fließt, während die immaterielle Kunstform Tanz leider keinerlei Beachtung fand, können diese Initiativen [der Kulturstiftung des Bundes] als Wendepunkt gelten. Das Interesse an Tanz als Erinnerungskultur nimmt demzufolge zu. Auch Tanz wird überliefert: Tanzwissen von einer Generation zur nächsten, von einer Lebenswelt zur nächsten, von einem Körper zum nächsten. Hieraus ergibt sich nun die Fragestellung, inwiefern ein Tanztheaterstück auch ein Denkmal ist bzw. sein kann. Denn nur in jenem Moment, in dem getanzt wird, kann das Denkmal existieren. Wie auch im Theaterstück „à nos morts“.



Angelika Brünecke, 2013


Literatur

Compagnie Mémoires Vives (2006/2007): Dossier Pedagogique. A nos morts. Ohne Ort, Ohne Verlag. 

Faulenbach, Bernd (2006): Erinnerungskulturen in Mittel- und Osteuropa als wissenschaftliches und geschichtspolitisches Thema, in Faulenbach, B. (2006). "Transformationen" der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989(1. Aufl.). Essen: Klartext-Verlag, 11-21

Gilzmer, M. (2007). Denkmäler als Medien der Erinnerungskultur in Frankreich seit 1944. München: Meidenbauer.

Pauli, Hertha (1990): Der Riss der zeit geht durch mein Herz, Frankfurt a.M.: Ullstein. 

Pfeil, Ulrich (2006): Frankreich: Entwicklungslinien der französischen Erinnerungskultur in den letzten Jahren, in Faulenbach, B. (2006). "Transformationen" der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989(1. Aufl.). Essen: Klartext-Verlag, 299-327. 

Ritter, Madeline; Franz Anton Cramer (2013): Bewegung als Erinnerung. Weiterentwicklung: Gedächtniskultur im Tanz, der Architekt, 3, 68-71 http://www.diehl-ritter.de/media/spiegel/der_architekt_2013-3_grenzen_der_erinnerung_S_068-071Bewegung_als_Erinnerung.pdf, Zugriff am 27.4.2016

Rüsen, Jörn (2006): Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Erinnerungskultur, in Faulenbach, B. (2006). "Transformationen" der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989(1. Aufl.). Essen: Klartext-Verlag, 413-415.